Sichere Gebiete in Afghanistan? Dem Krieg entkommen und doch nicht sicher. Afghanische Flüchtlinge zwischen Gewalterfahrungen und Zukunftsangst Der zweite Teil der Vortragsreihe „Warum fliehen Menschen?“ mit der Referentin Friedericke Stahlmann, fand am Dienstagabend in der Stadtbücherei Tettnang statt. Stahlmann, seit 2008 Doktorandin am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle an der Saale, beschäftigt sich seit 2002 intensiv mit Afghanistan, spricht Dari und hat längere Zeit dort gearbeitet und geforscht. Für britische Gerichte ist sie seit 2016 als Gutachterin in Asylverfahren zu Afghanistan tätig und hat dadurch aktuelle Einblicke in die Abschiebepraxis. Die Leiterin der Stadtbücherei, Cosima Kehle, begrüßte im Namen des Asylnetzwerks Tettnang und der Bücherei die überwältigende Anzahl der Zuhörer. Im Anschluss daran sangen afghanische Kinder ein Lied in ihrer Landessprache Dari und es wurde afghanisches Gebäck angeboten, in dem 11 Kilo Mehl und reichlich Arbeit steckten. Friedericke Stahlmann begann mit einem Blick auf die Geschichte Afghanistans. 1747 Gründung eines selbstständigen Königreichs. 1893 Festsetzung der Grenzen. Afghanistan wurde Pufferstaat zwischen russischem Einflussgebiet und British-India, später Pakistan. Lange Zeit herrschte Frieden und es gab einen stetigen Aufbau staatlicher, wirtschaftlicher und sozialer Infrastruktur in dem von zahlreicher ethnischer Vielfalt geprägten Land. Afghanistan gelang es erfolgreich, sich während der Weltkriege und im Kalten Krieg neutral zu verhalten. Durch die Schließung der Grenze zu Pakistan „kippte“ laut Friedericke Stahlmann das Machtgleichgewicht. Der Handel wurde unterbrochen und Afghanistan näherte sich der Sowjetunion an. Nach der sowjetischen Besatzung formierten sich Widerstandsparteien (Mudschaheddin), die von USA, Pakistan, Ägypten, Iran und Saudi-Arabien unterstützt wurden. Es gab weit über 2 Mio. Tote, 3 Mio. Verwundete und 7,3 Mio. Afghanen flüchteten. Großteile des Landes waren vermint. 1989 folgte der Abzug der sowjetischen Truppen. Zahlreiche Waffen fielen den Widerstandsparteien in die Hände und so entstanden Bürgerkriegsparteien. Gegnerische Zivilbevölkerung wurde vertrieben oder ermordet. Die Kriminalität nahm überhand. 1993 traten die Taliban in den Bürgerkrieg ein und kontrollierten 2001 nahezu 90% des Landes. Bald waren Massaker, Zerstörungswut, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Gesetzlosigkeit an der Tagesordnung. Fazit waren 6,2 Millionen Flüchtlinge. Nach dem Anschlag auf das World Trade Center am 11.09.2001 erfolgte die Vertreibung der Taliban. UN, NATO und eine Koalition aus Staaten und Organisationen schürten Hoffnung auf Sicherheit, Demokratie und Weiterentwicklung, die bald enttäuscht wurde. 2014 erfolgte ein weitgehender Abzug der internationalen Truppen. Friedericke Stahlmann wies in ihrem Vortrag darauf hin, dass nicht nur UNHCR sondern auch viele andere internationale Organisationen die Behauptung der Bundesregierung, es gäbe sichere Gebiete in Afghanistan, infrage stellen und welchen enormen Risiken die abgeschobenen Rückkehrer ausgesetzt seien. Afghanistan sei laut UNHCR komplett von einem bewaffneten Konflikt erfasst. Weder Städte noch ländliche Gebiete böten Schutz. Taliban und IS machten ein ziviles Leben unmöglich. Ein junger, gesunder Rückkehrer hätte, laut Stahlmann, eigentlich nur die Möglichkeit, sich einer kriminellen Bande anzuschließen. So sieht sie auch die Zukunftsperspektive Afghanistans sehr schwierig obwohl sich die Bevölkerung nach Frieden sehnt. Deshalb wünscht sich Stahlmann erheblichen Widerstand gegen die gängige Abschiebepraxis, geflohene Menschen in Krieg und Terror zurückzuschicken. (Text und Fotos Annette Rösler)