Im vollbesetzten Foyer der Stadthalle Tettnang ging es am Dienstagabend um das Thema „Krisenherd Naher und Mittlerer Osten“. Andreas Zumach, deutscher Journalist, Publizist und Buchautor, sprach im letzten Vortrag der Reihe „Warum fliehen Menschen?“, die von der Stadtbücherei Tettnang und dem Asylnetzwerk Tettnang initiiert worden war, über die Zusammenhänge westlicher Politik und die dadurch entstandenen Konflikte von Marokko bis Afghanistan. Nach der Begrüßung durch die Leiterin der Stadtbücherei, Cosima Kehle, die an das Ankommen der ersten Flüchtlinge in Tettnang im Jahr 2015 erinnerte, die damals in der Stadthalle untergebracht waren, ergriff Andreas Zumach das Wort. Zumach ist am europäischen Hauptsitz der Vereinten Nationen (UN) in Genf als Korrespondent, unter Anderem für die „Tageszeitung (taz)“ und „die Presse“ sowie für deutschsprachige Rundfunkanstalten tätig. Im Jahr 2009 wurde ihm der Göttinger Friedenspreis verliehen. Zumach begann mit einem Rückblick auf das Jahr 1945, als Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg vierzehn Millionen Flüchtlinge aus den Ostgebieten in das vom Krieg schwer gebeutelte Land integrieren musste. Infolge von Flucht und Vertreibung lebten in Deutschland bald doppelt so viele Menschen pro Quadratkilometer wie vor dem Zweiten Weltkrieg. Mit der damals gegründeten UN Refugee Agency, UNHCR, konnte die Herausforderung geschafft werden. Zwischen 1992 und 1995 kamen ungefähr 400.000 Flüchtlinge aus Ex-Jugoslawien in Deutschland an, auch diese Situation konnte verkraftet werden. Laut Andreas Zumach hat es damals nicht einen Übergriff auf Flüchtlinge gegeben. Der Gedanke „noch einmal schaffen wir das nicht“, der zum Teil von den Altparteien ausging, hat sich in den Köpfen der Menschen festgesetzt, so Zumach. 700 gewalttätige Übergriffe auf Flüchtlinge wurden registriert. Restriktive Maßnahmen wurden beschlossen, um Unerwünschte draußen zu halten. Mit der Folge, dass hilflose Einzelne dem organisierten Verbrechen in die Hände fallen, das mit weltweiten Schleppernetzen operiert.
Aktuell gibt es 66 Millionen registrierte Flüchtlinge, zwei Drittel davon sind Binnenflüchtlinge, das heißt Vertriebene im eigenen Land. Viele Flüchtlinge halten sich in Nachbarländern auf, die größte Last tragen arme Staaten wie zum Beispiel Afrika. Bei weitem nicht alle wollen nach Europa. Zu den anerkannten Fluchtgründen gehören die politische Verfolgung in Kriegs- und Bürgerkriegssituationen. Die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge, in Wahrheit Armutsflüchtlinge, gehören nicht dazu. „Ist es nicht legitim, ein Land zu verlassen, wo es keine Perspektiven außer Not und Armut gibt?“ fragt Andreas Zumach. Afrika zum Beispiel konnte sich lange Zeit recht gut selbst versorgen. Man baute das an, was man benötigte. Multinationale Unternehmen, wie zum Beispiel Nestlé, empfahl den Menschen nur noch Exportgüter wie Kaffe und Kakao anzubauen. Bald hatten hatte man seine Eigenständigkeit verloren und musste Nahrungsmittel importieren. Das Land war abhängig und erpressbar geworden. Für Biokraftstoff werden Agrarflächen zerstört, die Bauern können ihre eigenen Produkte nicht verkaufen, da die Importprodukte billiger sind.
Seit den Protesten im sogenannten „arabischen Frühling“ gegen die autoritären Herrscher und politischen sowie sozialen Strukturen, gäbe es laut Zumach von Marokko bis Pakistan gescheiterte Staaten, die keine funktionierende Zentralregierung mehr hätten. Die Menschen hatten sich Verbesserungen im Hinblick auf die Menschenrechtslage erhofft, doch leider hat sich dieses Bild ins Gegenteil verkehrt. Das Fehlen von positiven Lebensperspektiven wirke sich auch begünstigend auf den Terrorismus aus. Deshalb kommen die Menschen zu uns. Sie sehen Dinge, die wir erreicht haben und sich auch wünschen, wie das Funktionieren nationaler Volkswirtschaften und Demokratie.
Welche Möglichkeiten gibt es, Fluchtursachen zu überwinden? Laut Zumach müsste für die nächsten 25 Jahre Folgendes geplant werden: „Ungerechte Handelsabkommen, die den großen Unternehmen Vorteile bescheren, müssen überarbeitet werden. Multinationale Konzerne benötigen Kontrolle. Lobbyisten sollen in Verhandlungen nicht zugelassen sein. Agrarsubventionen müssen eingestellt werden. Der Rüstungsexport in Krisenländer muss gestoppt werden. Hilfe zu einer tragfähigen Volkswirtschaft kann gewährleistet werden, wenn benötigte Fachkräfte in Deutschland ausgebildet werden und dann in ihre Heimatländer zurückkehren.
Die Gespräche mit der UNO gestalteten sich sehr schwierig, eine Friedenslösung sei weit weg, meinte Andreas Zumach. Assad verhandle nicht ernsthaft und Erdogan verhindere mit der Erpressung im Flüchtlingsabkommen des EU-Türkei Deals erfolgreich die Teilnahme der Kurden, welche die größte ethnische Volksgruppe darstellen. Auf die Frage aus dem Publikum, was jeder Einzelne beitragen könnte, meinte Andreas Zumach: „Prangern Sie Missstände laut an, haben Sie Mut!“ Mehr Mut wünscht er sich auch von der aktuellen Regierung.
(Text Annette Rösler)