„Warum fliehen Menschen?“ – Clemens Ronnefeldt spricht in der Bücherei über Syrien und geht Fluchtursachen auf den Grund

Die Stadtbücherei Tettnang hat gemeinsam mit dem Asylnetzwerk Tettnang drei hochkarätige Referenten gewinnen können, die über die Hintergründe von Fluchtursachen in Krisenregionen sprechen werden. Die Vortragsreihe „Warum fliehen Menschen?“ startete am Donnerstagabend in der mit 120 Personen voll besetzten Bücherei mit dem Diplom-Theologen Clemens Ronnefeldt. Ronnefeldt ist seit 1992 Referent für Friedensfragen beim deutschen Zweig des Internationalen Versöhnungsbundes. Er hat seit 1990 die Länder Irak, Iran, Syrien, Libanon, Israel, Palästina, Jordanien und Ägypten bereist und vor Ort Friedens- und Menschenrechtsgruppen besucht, deren Arbeit er von Deutschland aus unterstützt. Der Internationale Versöhnungsbund, bei dem Clemens Ronnefeldt angestellt ist, wurde 1914 von engagierten Christen im Anschluss an eine Konferenz zur Verhinderung des ersten Weltkrieges gegründet.Heute gehören dem Verband rund 100 000 Mitglieder in 50 Staaten der Erde an. Sieben Friedensnobelpreisträgerinnen und Nobelpreisträger, darunter Dr. Martin Luther King, gingen aus dem Internationalen Versöhnungsbund hervor. Der Verband hat Beraterstatus bei den Vereinten Nationen.

Die Begrüßung der Gäste am Donnerstagabend übernahmen die Brüder Majid und Maen Alkhoury, die beide aus Syrien stammen und mittlerweile in Tettnang voll integriert sind. Dem anschließend folgenden, traurigen Lied aus ihrer Heimat, begleitet von einer Trommel, die als Ersatz für ein syrisches Instrument diente, folgte ein temperamentvoller, mitreißender Tanz, der gemeinsam mit drei syrischen Freunden dargeboten wurde und das Publikum begeisterte.

Nach einer kurzen Einführung von Cosima Kehle, der Leiterin der Bücherei, übernahm Clemens Ronnefeldt das Wort. In Syrien und im Irak sind mehr als 50 % der Bevölkerung jünger als 25 Jahre, bei uns sind das nicht einmal 25 %. Diese, zum Teil sehr gut ausgebildete Generation, lebt in einer Perspektivlosigkeit, die unweigerlich zu Spannungen führt, wenn dort durch bessere Zukunftschancen nicht gegengesteuert wird. Dazu kommt ein blutiger Machtkampf zwischen Iran und Saudi-Arabien um die Vorherrschaft in der Region, bei der Unfrieden zwischen der Sunnitischen und Schiitischen Bevölkerung geschürt wird und die Zivilbevölkerung die Leidtragende ist. Zusätzlich kommen die Kurden im Norden Iraks sowie im Nordosten Syriens mit ihrem Wunsch nach Autonomie ins Spiel, die bei der türkischen Regierung Ängste vor einem Übergreifen der Bewegung auf die Türkei hervorrufen. Die Regierung der Türkei versucht deshalb durch Bombardierung der Hochburgen der PKK-Führung, durch Islamisierung und Arabisierung, zu Ungunsten der Kurden, die Demographie „neu zu gestalten“. 400.000 Kurden sind bereits geflohen, statt dessen wurden sunnitisch-arabische Flüchtlinge aus Syrien dort angesiedelt. Zu einer weiteren Fluchtursache zählen klimatische Veränderungen, wie z. B. Dürrekatastrophen, die vor allem an der syrisch-türkischen Grenze Hunderttausende Klimaflüchtlinge zur Folge hatten, die sich in den Elendsvierteln von Aleppo und Damaskus niederließen. Türkische Staudammprojekte verschärfen die Wasserverteilungsfrage zwischen Türkei, Syrien und Irak schon jetzt. Russland unterstützt Assad militärisch, damit eine geplante Gaspipeline nicht nach Europa führt, um eine Konkurrenz zu russischen Gaslieferungen zu vermeiden. Durch die Unterstützung Amerikas der ehemaligen Machthaber wie z. B. Saddam Hussein, Osama bin Laden und dann deren Fallenlassen, nicht eingehaltene Versprechen, Waffenlieferungen, auch aus Deutschland, haben dazu beigetragen, dass sich der Islamische Staat bilden konnte. Die Führungsspitze des IS entspringt einer Gruppe von ehemaligen Generälen der irakischen Streitkräfte aus der Saddam-Hussein-Ära. Der ungelöste Israel-Palästina-Konflikt, der insbesondere auf die Auseinandersetzungen zwischen arabischen und jüdischen Nationalbewegungen zurückgeht, trägt weit in die gesamte Region hinein ebenfalls zum Konflikt bei.

Was für Lösungen gibt es nach der Meinung von Clemens Ronnefeldt für den Frieden im Nahen Osten?

Gespräche statt militärischer Handlungen. Einstellung der Bombardierungen und aller Drohnenangriffe. Die Einberufung einer Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Nahen Osten. Hilfsorganisationen brauchen Zugang zu Verwundeten und Flüchtlingen. Hilfskonvois müssen beobachtet werden, denn oft werden die Güter einbehalten und kommen gar nicht am Ziel an. Die Schließung von IS-Rekrutierungsbüros.

Wie Ronnefeldt bemerkt, gibt es auch viele positive und mutige Aktionen von lokalen Gruppen, die zum Teil ihr Leben aufs Spiel setzen und die in der Öffentlichkeit fast nicht bekannt werden, weil dafür kein Interesse der Massenmedien besteht.

Die Flüchtlingsbeauftragte der Stadt Tettnang, Brigitte Ganzmann, übernahm am Ende des Vortrags die Moderation für die eine Diskussion mit Clemens Ronnefeldt.

Was kann man tun?

Ein großes Thema sind vor allem die jungen Menschen. Junge Syrer benötigen Förderung und Perspektiven, um sich nicht aus Frust vom IS rekrutieren zu lassen. Eine Lösung wäre evtl. qualifizierte Syrer als Lehrer in die Lager zu schicken. Auch Städtepartnerschaften zu Syrien wurden als Lösungsidee vorgeschlagen. Wenn sich jede Gemeinde für ein Flüchtlingslager zuständig fühle, könne man vieles bewirken. Clemens Ronnefeldt lobte zum Schluss die Aktivitäten der Stadt Tettnang gemeinsam mit dem Asylnetzwerk und bestärkte darin, weiter Menschlichkeit zu üben, die Integration der geflohenen Menschen, die bei uns leben, zu fördern und offen zu bleiben.

Eva Aicher, als Stellvertreterin des Asylnetzwerks, überreichte zum Dank Clemens Ronnefeldt eine Flasche Original Olivenöl aus Jerusalem und an alle Akteure noch einen Frühlingsblumengruß.

Hinweise auf die nächsten Veranstaltungen:
25. April 2017, 19.30 h, Friederike Stahlmann über Afghanistan
14. November 2017, 19.30 h, Andreas Zumach: „Krisenherd Naher und Mittlerer Osten“

(Text und Fotos: AR)

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