Aus der Schwäbischen Zeitung vom 9.7.2016. Text und Foto Jens Lindenmüller.
Nach eineinhalb Jahren hat das Warten ein Ende
Syrische Familie ist nach Flucht und bürokratischem Hindernislauf in Tettnang wieder vereint
TETTNANG – Auf diesen Tag hat Salim Haj Ahmad lange gewartet. Den Tag, an dem er nach eineinhalb Jahren endlich seine Frau Ibtissam, Sohn Aakl und Tochter Rahaf wieder in die Arme schließen durfte. Den Tag, an dem er am Münchner Flughafen zum ersten Mal überhaupt seinem vor zehn Monaten geborenen Töchterchen Marya einen Kuss auf die Wange drücken durfte. Den Tag, an dem er fünf Jahre nach Verlassen seiner Heimat Syrien das Kapitel Flucht endgültig abschließen konnte. Der 20. Juni 2016 markiert für den 35-Jährigen und seine Familie den Beginn eines neuen Lebens. Was davor war, will Salim Haj Ahmad abhaken und vergessen. Für die SZ hat er nochmal eine Ausnahme gemacht und seine Geschichte erzählt. Die Geschichte einer nervenaufreibenden, letztendlich aber erfolgreichen Flucht und Familienzusammenführung. Diese Geschichte beginnt in Idlib, einer Stadt in Syrien 50 Kilometer südwestlich von Aleppo. Dort lebt Salim Haj Ahmad mit seiner Frau Ibtissam und Sohn Aakl. Er betreibt ein Im- und Exportgeschäft und hat keinen Grund zu klagen. Ihm und seiner kleinen Familie geht es gut. Als Anfang 2011 der Bürgerkrieg in Syrien ausbricht, will Haj Ahmad zunächst bleiben. Als die Auseinandersetzungen immer blutiger werden, immer mehr Menschen sterben, beschließt er aber doch, die Heimat zu verlassen. Der Plan ist, sich mit Frau und Kind im Libanon, wo Verwandte seiner Frau leben, eine neue Existenz aufzubauen und dort zu bleiben, bis der Krieg vorbei ist. Das klappt zunächst auch gut, doch die Aufenthaltserlaubnis gilt nur für drei Jahre. 2014 steht die Familie vor der Wahl: zurück nach Syrien oder in ein anderes Land.
Frau und Kinder im Libanon
Mittlerweile sind sie zu viert. Eine Rückkehr in die zerbombte Heimat, wo nach wie vor der Krieg tobt, ist mit zwei kleinen Kindern keine echte Alternative. Salim Haj Ahmad will versuchen, sich bis nach Deutschland durchzuschlagen, weil er von Landsleuten gehört hat, dass es das beste Land sein soll, wenn man in Europa leben will. Weil der Weg lang, beschwerlich und gefährlich ist, beschließt der damals 33-Jährige, zunächst alleine loszuziehen. „Ich wollte erstmal sehen, ob ich das überhaupt schaffe“, sagt er. Dass seine Frau erneut schwanger ist, verschweigt diese ihm. „Ich wollte nicht, dass er sich Sorgen macht und deshalb nicht geht“, sagt sie. Ibtissam bleibt mit den Kinder im Libanon. Illegal, weil auch ihre Aufenthaltserlaubnis abgelaufen ist. Familienangehörige unterstützen sie, damit sie mit den Kindern finanziell über die Runden kommt. Am 15. Januar 2015 erreicht Salim Haj Ahmad Deutschland, ein paar Wochen später landet er in Friedrichshafen und kommt schließlich bei einem Landsmann in Tettnang unter. Die Anerkennung als Asylberechtigter bekommt er relativ zügig, doch die größte Herausforderung steht ihm noch bevor: Wie bekommt er seine Familie nach Deutschland? Mittlerweile hat ihm seine Frau ver-raten, dass ein drittes Kind unterwegs ist. Haj Ahmad macht sich große Sorgen. Um Frau und Kinder nach Tettnang holen zu dürfen, braucht er eine Wohnung, die groß genug ist, und er braucht vor allem Papiere. Viele Papiere. Geburtsurkunden, Heiratsurkunde, Vaterschaftsnachweise und, und, und. Sein großes Glück: Beim „Speeddating“ des Asylnetzwerks Tettnang lernt der Syrer Ilse Liebner und Rudolf Schulz kennen. Sie helfen ihm bei den Behörden, helfen bei der Wohnungssuche, sind immer da, wenn Salim Haj Ahmad alleine nicht weiter weiß. „Sie haben mir das Leben hier sehr, sehr erleichtert“, sagt er voller Dankbarkeit und zeigt strahlend und mit erhobenem Daumen auf die beiden. Eines konnten die neuen Freunde allerdings nicht: die Familienzusammenführung beschleunigen. „Es war zäh, sehr zäh“, sagt Ilse Liebner. Immer dann, wenn ein weiteres Schriftstück, eine weitere Unterschrift oder ein weiterer Stempel aus Syrien benötigt wird, heißt es von dort: „Du bist abgehauen, Du bekommst gar nichts – außer Du zahlst.“ Und Salim Haj Ahmad zahlt. Jedes Mal – mit in der Familie und im Freundeskreis gesammeltem Geld. Und dann heißt es immer wieder Warten. Warten. Warten. Im Libanon ist es genau dasselbe. Dort muss seine Frau die erforderlichen Papiere besorgen – zahlen und warten, zahlen und warten. Einmal habe sie bei einem Behördengang acht Stunden für ein einziges Schriftstück warten müssen, erzählt sie. Mit drei Kindern. Das sei ziemlich hart gewesen. Auch für Salim Haj Ahmad eine nervenaufreibende Zeit – weil er nichts anderes tun kann als: Warten. Und hoffen, dass irgendwann doch noch alles klappen wird. „In dieser Zeit habe ich wenig geschlafen und viel zu viel geraucht“, erzählt er.
6000 Euro nur für Papiere
Mehr als ein Jahr wartet er, mehr als 6000 Euro bezahlt er letztendlich, bis alle Papiere beisammen sind und seine Frau mit den drei Kindern in Beirut ins Flugzeug steigen darf. Töch-terchen Marya ist mittlerweile zehn Monate alt, Haj Ahmad kennt die Kleine nur von Fotos. Bis zu jenem 20. Juni in München. Die 20 Minuten, die er nach der Landung des Flugzeugs warten muss, bis sich die Türen in der Ankunftshalle öffnen, kommen ihm vor wie 20 Monate. Aakl, sein mittlerweile fünfjähriger Sohn, ist es, der als erster losrennt und den Papa feste an sich drückt. Auch das Baby hat keine Berührungsängste, streicht dem Papa sofort über die Wange und schläft auf dessen Arm sogar ein. Wie hat sich das angefühlt? „Das kann man nicht beschreiben. Es war ein Gefühl wie neu geboren werden“, sagt Salim Haj Ahmad. Und es ist der Moment, in dem für ihn und seine Familie ein neues Leben beginnt.
Anmerkung
Da Salim Haj Ahmad seine Geschichte noch nicht komplett auf Deutsch erzählen kann, hat die SZ für das Gespräch die Hilfe von Soha Fouad in Anspruch genommen, die aus Ägypten stammt, in Tettnang lebt und ehrenamtlich als Übersetzerin für das Asylnetzwerk Tettnang tätig ist.